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Gesellschaft im Umbruch? – 2022 ist nicht 1989

Am 7. Oktober jährte sich zum 73. Mal das Gründungsdatum der DDR. Was als Unrechtsstaat und Diktatur in der offiziösen Geschichtsschreibung abgehakt wird, war immerhin der erste Versuch auf deutschem Boden, eine Gesellschaft weitestgehend frei von Privateigentum zu gestalten. Nach 40 Jahren war dann auch Schluss. Große Teile der Bevölkerung waren es leid, durch einen vormundschaftlichen Staat regiert zu werden, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seinen Machterhalt betrieb. Zugleich hatte sich im anderen Teil Deutschlands ein überaus erfolgreicher kapitalistischer Gegenentwurf entwickelt mit anfänglicher Vollbeschäftigung, sozialen Sicherungssystemen, wachsendem Luxus, Warenangebot im Überfluss und dank der 68er Bewegung mit demokratischen Strukturen. Den Wettlauf gegen einen überbordenden Konsum bei gleichzeitiger Gewährung bürgerlicher Freiheiten konnte das kleine Land zwischen Oder und Elbe nicht gewinnen. Trotz wirtschaftlicher Erfolge und sozialer Errungenschaften gärte es immer wieder in der Bevölkerung. Eine gesicherte Staatsgrenze ab 1961 diente nicht allein der Abwehr der anhaltenden Sabotageakte feindlicher Übeltäter, sondern sollte überdies die teuer bezahlten Fachkräfte im Land halten, die bis dahin aufgrund verkrusteter Strukturen und dank der Verlockungen des Westens ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten.

Zum Ende der achtziger Jahre wendete sich das Blatt. Oppositionelle Kräfte hatten gelernt, sich zu vernetzen und programmatische Ideen zu entwickeln. Es gelang ihnen, unter dem Dach der Kirche stabile Organisationsstrukturen in Form sogenannter Bürgerbewegungen zu bilden. Ihre unter schwierigen Bedingungen vervielfältigten Flugschriften gingen in der Szene von Hand zu Hand. Erste „wilde“ Demonstrationen waren in Leipzig und Berlin zu verzeichnen. Anfang September 1989 gründete sich das Neue Forum und meldete sich unter Berufung auf die Verfassung der DDR bei den zuständigen Organen an. Noch bis zur ersten Oktoberhälfte ging die Staatsmacht mit Härte gegen die Protestbewegung vor. Als am 18. Oktober Erich Honecker beschlussgemäß aus Gesundheitsgründen von allen Ämtern zurücktrat, änderte sich die Taktik der mit verfassungsmäßigem Führungsanspruch allgegenwärtigen SED. Viel zu spät suchte man den Dialog, was immerhin am 4. November auf einer gigantischen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz seinen Höhepunkt fand.

Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Was allenfalls wie eine sprachliche Ungeschicktheit Günter Schabowskis wirkte, ging als historischer Lapsus Linguae in die Weltgeschichte ein. Mit dem sogenannten „Mauerfall“ war folgerichtig dass Schicksal der DDR besiegelt.

Seit fast drei Jahren gärt es wieder im Volk. Viele Menschen sind es leid, mundgerecht vorgefasste Meinungen durch Presse und Funk serviert zu bekommen, Regeln zu befolgen, „die nicht hinterfragt“ werden dürfen, Handlungen aufgenötigt zu bekommen, die sie nicht befolgen wollen. Dank Internet haben sich alternative Medien entwickelt, die so ganz andere Wahrheiten für den Rezipienten bereit halten. Sie übernehmen heute die Rolle des „Westfernsehens“. Der leitmediale Druck ist immens. An private US-Konzerne ausgelagerte Zensurmaßnahmen sind kaum zu übersehen. Friedliche Demonstrationen wurden zum Schutz der Gesundheit auseinander geknüppelt.

Die Kirche jedoch hält bisher ihre Pforten geschlossen. Anders als 1989 folgen sie den Erklärungen der Medien und der hinter ihnen stehenden Mächtigen aus Politik und Wirtschaft. Wer sich nicht anpasst, gilt als Schwurbler, Covidiot, in jedem Fall als Verschwörungsmythologe und ist garantiert rechtsextrem, Reichsbürger, Antisemit oder Nazi. Über dem Eingangsportal der Gethsemanekirche prangt ein Banner „22 ist nicht 89“, ein angesichts ihres eigenen Gebarens weiser Slogan.
Zum Gedenken an die Zeitenwende von 1989 und ihrem Bezug zur Gegenwart haben sich beherzte Mitglieder der Pankower Basis daran gemacht, mit einer Wanderausstellung zum Thema an die Öffentlichkeit zu gehen.

Sebastian Pflugbeil

Tatkräftige Unterstützung erfuhren die Initiatoren u.a. von Sebastian Pflugbeil (75), einem der Mitbegründer des Neuen Forums. Neben der Beisteuerung wertvoller Materialien stellte sich der Physiker zu festgelegten Terminen der sowohl vor der Gethsemanekirche, als auch auf dem Alexanderplatz stattfindenden Ausstellung mehrfach als Zeitzeuge zur Verfügung.

siehe auch: Aufbruch 89

Andere verhielten sich abweisender. Der überwiegende Teil der eingeladenen Persönlichkeiten antwortete gar nicht erst. Fotograf Harald Hauswald, der als kritischer Beobachter der DDR gilt, hatte zunächst zugesagt, acht seiner Fotos für die Galerie zur Verfügung zu stellen. Das Angebot wurde kurz darauf vom Management des Künstlers widerrufen. Man vermutete offenbar eine Nähe zu den Pankower Montagspaziergängen. Angst vor Kontaktschuld und die daraus sich ergebende Schweigespirale – Erscheinungen, die manchen DDR-Bürger an die Vergangenheit erinnern.

Die Reaktionen der Passanten sind positiv und reichen von Neugier bis zum Mitteilungsbedürfnis über das eigene Erlebte aus dieser Zeit. Freilich sind es insbesondere die Älteren, die überhaupt von den Präsentationen Notiz nehmen. Junge Leute oder gar Jugendliche, wie sie sich in der Nähe der Weltzeituhr zur Rush Hour in Massen einfinden, schauen durch die Dokumentation hindurch, als existiere sie nicht. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Was in ihren Köpfen vorgeht, wissen wir nicht. Das allgegenwärtige Smartphone, die Digitalisierung ihrer Welt, die fragmentierte Informationsflut, nicht zuletzt ein Bildungswesen, dessen Inhalte sicher auf den Prüfstand gehören, haben diese Generation längst entkoppelt. Statt dessen liefert sie teils verstörende Bilder voller Angepasstheit und von fehlendem Widerspruch. Jugendliches Aufbegehren, oppositionelles Denken oder gar Kampfbereitschaft waren in vielen emanzipatorischen Bewegungen oft genug von zumeist jungen Menschen mitgetragen worden. 1789, 1848, 1917, 1968, 1989. Auch das ein Anhaltspunkt dafür, dass ’22 nicht ’89 ist.

(Scotti)

Verstörende Bilder auf dem Alexanderplatz

Fotos: ©scottiberlin