Reflektionen über ein Plakat an einer Kirche
Die Autorin hat beobachtet, was an und vor der Berliner Gethsemanekirche geschieht. Dort zeigt sich, wie gespalten die Gesellschaft ist und wer dabei welche Rolle spielt. Zugleich zeigt sich Hoffnung.
Es ist Juni. Über dem Eingangsportal der Gethsemanekirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hängt ein Plakat, das behauptet: „22 ist nicht 89 – Wir leben in keiner Diktatur“. Auf dem Platz vor der Kirche um mich herum friedliche Demonstranten, „Give peace a chance“ singend. Zuvor bedauerte eine Frau in einer Rede die Spaltung der Gesellschaft in „Geimpfte“ und „Ungeimpfte“ und forderte, die Grundrechte für alle Bürger wiederherzustellen. Von der anderen Straßenseite tönt es: „Coronaleugner raus aus den Kiezen!“ und „Nazis raus!“. Die sogenannte Antifa-Jugend meldet sich so hinter einer Absperrung mit einer davor postierten Polizeikette zu Wort.
Ich gehe ein paar Schritte weiter, schaue an der Kirche hoch und sehe mit Erstaunen eine veränderte Botschaft des Plakates: „22 ist 89“ ist nun zu lesen. Der Satz darunter heißt jetzt nur noch: „Wir leben …“. Was war passiert, dass sich die Aussage des Plakates ins Gegenteil gedreht hat?
Die Antwort: Vor der Kirche steht eine große Statue von Jesus. Durch meinen Positionswechsel verdeckte die Statue nun einige Worte und erschuf damit die komplett gegenteilige Aussage: „22 ist 89“. Erstaunlich!
Von meinem Vater, der Pfarrer ist, hörte ich oft: „Christus ist immer an der richtigen Stelle.“ Das fiel mir in dem Moment wieder ein. Es bedeutet, dass es eine Kraft gibt im Leben die uns immer unterstützt und im richtigen Moment Hinweise gibt, um Auswege aus schwierigen und festgefahrenen Situationen zu zeigen. Hier zeigte sich nun also auf ganz praktische Art und Weise, dass ein Wechsel der Perspektive es möglich macht, andere Sichtweisen auf ein Problem zu gewinnen, um zu einer Lösung zu kommen.
Die Plakataufschrift „22 ist nicht 89 – Wir leben in keiner Diktatur“ ist eine politische Aussage der Gethsemanekirche und lässt in ihrer Ausschließlichkeit keine andere Meinung zu. Sie ist ein Spiegel dessen, was dort tatsächlich vor Ort passiert. Die andere Lesart „22 ist 89 – Wir leben …“ ist auch eine klare politische Aussage, die der ersten konträr gegenübersteht. Perspektivwechsel und Christusstatue ermöglichen eine andere Sicht.
Das Bemerkenswerte ist, dass beide Aussagen zur selben Zeit am selben Ort existieren – ein scheinbarer Widerspruch, je nach Perspektive des Betrachters sichtbar. Sie spiegeln in ihrer gegensätzlichen Polarität unsere Welt wider: Sie wird aufgeteilt in Polaritäten wie „Plus und Minus“, „Hell und Dunkel“, „Schwarz und Weiß“, „Geimpft und Ungeimpft“. Das Problem dabei ist nicht, dass diese Pole existieren, sondern dass sie mit Bewertungen wie „Gut und Böse“ versehen werden. So wird aus zwei dualistischen Positionen, die einander ausschließen, etwas gemacht, was sich gegenseitig bekämpft.
Doch nehmen wir als Beispiel eine Batterie mit Plus- und Minus-Pol. Es zeigt, dass dieses Konzept der sich gegenseitig ausschließenden Polarität als Lebenskonzept nichts taugt. Beide Pole der Batterie schließen einander nicht aus und bekämpfen sich nicht. Sie sind sogar notwendig, um etwas Drittes entstehen zu lassen: Den Strom, der zwischen beiden Polen fließt. Dieses Dritte, der Strom, symbolisiert das Leben selbst, indem beide Pole gleichberechtigt existieren und in ihrem Spannungsfeld die Energie erst ins Fließen kommt.
Ist die doppelte Botschaft am Gotteshaus vielleicht ein „Wink des Himmels“? Zeigt er, es ist möglich, verschiedene gegensätzliche Positionen in ein und derselben Angelegenheit zuzulassen, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen? Auch 1989 waren die freie Meinungsäußerung und Überwindung bestehender Denkverbote eines der Hauptanliegen der Demonstranten. So wäre der beste Beweis, dass „22 nicht 89“ ist, diese freie Meinungsäußerung heute – 2022 – endlich zuzulassen! Die Kommunikation über die verschiedenen Positionen könnte als „Strom des Lebens“ die polarisierte, gespaltene Gesellschaft wieder zusammenführen. In eine neue Kultur der Versöhnung, die jetzt dringend gebraucht wird und nach der die derzeit gespaltenen, durch Pandemie und Krieg entfremdeten und gegeneinander aufgehetzten Menschen sich sehnen.
Ist es nicht der ureigenste Auftrag der Kirche, den Versöhnungsprozess in Gang zu bringen? Sie muss sich in Zeiten wie diesen auch die Frage gefallen lassen, was ein Plakat mit politischer Botschaft auf einer Kirche zu suchen hat. Die Antwort ist ziemlich simpel und lautet: Nichts. Denn die Kirche hat kein politisches Mandat, sondern die Aufgabe, das Evangelium zu verbreiten.
In mehrfacher Hinsicht können und sollten also die Aktivitäten der Berliner Gethsemanekirche unter diesem Gesichtspunkt in Frage gestellt werden, etwa die Aushänge im kircheneigenen Schaufenster. Dort erhält eine sogenannte Anwohnerinitiative mit einer Petition Raum. Darin wird Menschen, welche sich friedlich vor der Kirche gegen Spaltung und Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft aussprechen, unterstellt, sie würden Symbole der friedlichen Revolution in der DDR vereinnahmen. Die Demonstranten werden mit unbewiesenen Schlagwort-Behauptungen als „Corona-Leugner“ bezeichnet und ihnen „fehlende Abgrenzung gegenüber Rechtsextremist*innen“ vorgeworfen.
Das geschieht, ohne mit den Beschuldigten selbst in Dialog zu treten oder auf deren Dialoganfragen einzugehen. Das heißt, es erfolgt eine ungerechtfertigte Vorverurteilung der Protestierenden durch Kiezinitiative und Kirche. Das wiederum führt zu Spaltung, was dem christlichen Auftrag der Versöhnung diametral widerspricht.
Auch die seit Dezember 2021 organisierten Versammlungen der sogenannten Kiezinitiative mit pfarramtlicher Unterstützung sollten angesichts des fehlenden politischen Mandats der Kirche hinterfragt werden. Bei diesen Veranstaltungen bekommen Gastredner wie der ehemalige Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) Raum für politische Statements, Corona-Maßnahmen-Kritiker aber werden durch Polizei-Abschirmung und dokumentiertes, aggressives Verhalten der Veranstalter ausgeschlossen, wodurch kein Dialog der verschiedenen Gruppen stattfinden kann.
Keinesfalls ist es so, dass die Kirche nicht auch Kritik aus den eigenen Reihen bekäme. Es gibt eine Gruppe kirchlicher Vertreter, die mutig Farbe bekennt und die Kirche an ihren eigentlichen Auftrag erinnert. Der Aufruf von „Christen stehen auf“ kann auch online (www.christenstehenauf.de/aufruf/kirche) mitunterzeichnet werden. Darin wird explizit an die zentrale Botschaft des Evangeliums mit dem Versöhnungsauftrag der Kirche (Paulus im 2. Korinther 5, 19f.) hingewiesen. Dieser findet auch Ausdruck in den sieben leiblichen und sieben geistigen Werken der Barmherzigkeit als Grundlage für die christliche Gemeindearbeit.
Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit: 1. Die Hungrigen speisen 2. Die Durstigen tränken 3. Die Nackten bekleiden 4. Die Fremden beherbergen 5. Die Gefangenen erlösen 6. Die Kranken besuchen 7. Die Toten begraben
Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit: 1. Die Zweifelnden beraten 2. Die Unwissenden belehren 3. Die Sünder zurechtweisen 4. Die Trauernden trösten 5. Erlittenes Unrecht verzeihen 6. Die Lästigen geduldig ertragen 7. Für die Lebenden und die Verstorbenen beten
Diese Regeln entstanden in einer Zeit, in der das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde (Konstantinische Wende in den Jahren 312 – 393 n. Chr.). Sie gelten auch heute in Zeiten, in denen die Kirche als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ erheblich in staatliche Strukturen eingebunden ist und von diesen profitiert. Zu Recht entsteht so die Frage, wo das Zusammengehen von Kirche und Staat anfängt und wo es aufhört.
Es scheint damals wie heute notwendig, die Kirche an ihren eigentlichen Auftrag zu erinnern und diesen auch für sich selbst anzuwenden. Heute umso mehr in Zeiten der kirchlichen Ausgrenzung von Zweifelnden, von Trauernden, von Unrecht Erleidenden, von lästig erscheinenden Demonstranten. Denn „notwendig“ bedeutet dem eigentlichen Wortsinn nach: Die Not zu wenden. Das geschieht durch Versöhnung.
Als die Demonstration vor der Kirche beendet ist, sehe ich auf dem Rückweg, wie einige Demonstrationsteilnehmer sich mit Jugendlichen der sogenannten Antifa unterhalten. Des Weiteren eine Frau mit einem Polizisten im Gespräch über einen Obdachlosen, der seit Wochen direkt vor der Kirche in einem riesigen Müllberg campiert und anscheinend keine Hilfe bekommt, was den Polizisten darüber nachdenken lässt, ob die Kirche ihre Rolle denn eigentlich noch erfüllt.
Der Austausch zwischen maßnahmenkritischen Demonstranten, Polizisten und sogenannter Antifa hat augenscheinlich schon begonnen. Der Strom des Lebens beginnt zu fließen, die Spaltung beginnt aufzuweichen. Die Gemeindearbeit der Menschheitsfamilie findet bereits auf der Straße statt. Das alles ohne Anleitung oder sagen wir besser: Trotz Blockadehaltung der Kirche.
(Ronia Sagaia Vonreet)
Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift „Die Vier.“
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