Er ist der Staatsfeind Nummer 1 und seit dem 11. April 2019 der wohl bekannteste politische Gefangene der „westlichen Wertegemeinschaft“, die sich stets rechtsstaatlich und demokratisch gibt. An diesem Tag öffneten sich die Pforten der ecuadorianischen Botschaft in London, wo Julian Assange seit 2012 ausgeharrt und auf politisches Asyl gehofft hatte, vergeblich, wie wir heute wissen.
Assange wurde in einen Polizeiwagen gezerrt und in ein britisches Gefängnis verbracht. Ecuadors Präsident Lenìn Moreno hatte dem WikiLeaks-Gründer unter dubiosen Vorwürfen das Asylrecht aufgekündigt. Ob die eigene Schieflage des Staatsmannes eine Rolle spielte, er war im Februar 2019 in den INA-Papers mit illegalen Geschäften in Verbindung gebracht worden, mag mal dahin gestellt bleiben.
Seit der Veröffentlichung der Botschaftsdepeschen 2010 war Assange ein Gejagter. Seine Flüge buchte er direkt bei Abflug am Airport und bezahlte bar. So waren seine elektronischen Spuren weniger ermittelbar.1
Eric Holder erklärte 2010 die Plattform zum Staatsfeind: „Wenn es Lücken in unseren Gesetzen gibt, werden wir sie schließen. Niemand kann sich in diesem Punkt wegen seiner Staatsbürgerschaft oder seines Aufenthaltsortes dieser Ermittlung entziehen.“ 2 Soweit die Auffassung von Rechtsstaatlichkeit eines amerikanischen Justizministers. Im gleichen Jahr wird Assange wegen „Vergewaltigungsvorwürfen“ schwedischer Ermittlungsbehörden von Interpol in 188 Staaten zur Fahndung ausgeschrieben.
Die Vorwürfe zu beurteilen, obliegt einem fairen juristischen Verfahren. Schweden hat bezüglich Sexual-Straftaten ein strenges Rechtsverständnis, das 2018 mit dem Delikt der „fahrlässigen Vergewaltigung“ weiter verschärft wurde. Zuvor galt schon das Berühren der Geschlechtsorgane als Geschlechtsakt und Geschlechtsverkehr „ohne vollständigen Konsens“ galt als Vergewaltigung. 3 In diesem Kontext war es nach Bekanntwerden der Affäre mit zwei Frauen in der Nähe von Stockholm ein Leichtes, einen entsprechenden Tatvorwurf zu konstruieren. Inwieweit schwedische Behörden mit US-amerikanischen Geheimdiensten zusammenarbeiten und welche Rolle sie spielen, wissen wir nicht. Und einen moralisierenden Zeigefinger zu freizügigen Sexualauffassungen überlassen wir besser denen, die bis heute außerehelichen Verkehr als Sünde brandmarken und zugleich die Übergriffigkeit katholischer Prälaten auf Knaben in ihrer Obhut ignorieren. Tatsache ist, dass aktuell diese Episode keine Rolle mehr spielt. Assange soll an die USA ausgeliefert werden und dort drohen ihm absurd hohe Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe, die es im freiesten Land der Welt bis heute gibt.
In den Altmedien spielt der Australier zur Zeit kaum noch eine Rolle, die Schlagzeilen eher müde und rar gesät. Mit einer zwölf Jahre alten Story lockt man die Rezipienten nicht hinter dem Ofen hervor. Entsprechend dünn ist das Wissen um den Delinquenten. Fest steht, er wird seit Jahren in Einzelhaft gehalten. Ein Gerichtsverfahren gibt es bis heute nicht und selbst in den USA ist ein rechtsstaatlicher Umgang mit Assange äußerst fragwürdig. „Wir müssen aufhören zu glauben, dass es bei Julian Assange wirklich um eine Strafuntersuchung wegen Sexualdelikten, Spionage und Hacking geht. Was WikiLeaks getan hat, bedroht die politischen und wirtschaftlichen Eliten weltweit gleichermaßen. Der Fall Assange zeigt, dass es den Regierungen heute nicht mehr um legitime Vertraulichkeit geht, sondern um die Unterdrückung der Wahrheit zum Schutz von unkontrollierter Macht, Korruption und Straflosigkeit.“ 4
Am 3. Juni 2022 fand in der Musikbraurei in Prenzlauer Berg das zweite Solidaritätskonzert für den „Staatsfeind Nummer 1“ statt. Organisator Jens Fischer Rodrian war es gelungen, eine beachtliche Anzahl Künstler für dieses Event zu gewinnen. Die Einnahmen gingen an die Anwältin des Inhaftierten Stella Morris. Mit dabei waren:
Alexa Rodrian (Lyrikerin/Songwriterin)
Nikolai Binner (Comedian)
Philine Conrad (Autorin & Malerin)
Marta Murvai (Violinistin)
Jakob Heymann (Liedermacher)
Zulia & Lui Koray (Singer/Songwriter Rapper)
Lou Rodrian (Slam Poetin)
Isi Reicht (Liedermacherin)
Jens Fischer Rodrian (Slam Poet/ Foto)
und die 25-köpfige BasisBandBerlin 5
Uli Gellermann, vielen bekannt von „Die Macht um Acht“, eröffnete die Veranstaltung mit einer flammenden Rede für Wahrheit und Gerechtigkeit und forderte von der Jounaille, endlich den Fall Assange auf die Tagesordnung zu setzen. In einer Atmosphäre größter Aufmerksamkeit, man konnte zeitweise die sprichwörtliche Nadel zu Boden fallen hören, zeigten die Künstler vor ausverkauftem Hause ihre Darbietungen, die von Slam Poetry, über Rap, Singer Songwriting, klassische Musik bis hin zu Comedy gingen. Die BasisBandBerlin, im Umfeld derBasis Pankow entstanden, bildete den Abschluss eines Konzertes, dass für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, für Freiheit und Gerechtigkeit für jedermann steht.
Die ukrainische Malerin Pagina Ringe fertigte während der Veranstaltung im Nebensaal ein überlebensgroßes Assange-Porträt an. Die Besucher wurden so unmittelbare Zeugen des Schaffensprozesses, der mit einer erfolgreichen Versteigerung des Gemäldes in später Nacht seinen verdienten Höhepunkt fand. Die erzielten 550 Euro gingen zweigeteilt zugunsten der Künstlerin und der Anwältin Stella Morris.
Zu hoffen bleibt, dass mehr Initiativen sich der Sache des Inhaftierten annehmen. Welche Kraft die Musik im politischen Tagesgeschehen entwickeln kann, erlebten wir 1988, als im Wembley Stadion die Creme der internationalen Rock- und Popszene auftrat und „Freiheit für Nelson Mandela“ forderte. Kurze Zeit später kam der Häftling nach 28 (!) Jahren frei und wurde Präsident Südafrikas. Die Apartheid hatte abgewirtschaftet, die Rassentrennung gehörte längst auf den Scheiterhaufen der Geschichte. Gemeinsamkeiten zu damals gibt es durchaus. Freilich handelt es sich heute um eine globale Krise eines politisch-ökonomischen Systems, das 90 Prozent der Menschen von der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung abkoppelt und das für die Aufrechterhaltung der Macht der Eliten samt ihrer abstrusen Vermögen und ihrer nicht nachvollziehbaren Privilegien bereit ist, noch jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen den Freiheitswilllen und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen zu begehen.
(Scotti)
Anmerkungen:
1 Vgl. Rosenbach, Marcel/ Stark, Holger: Staatsfeind Wikileaks, München 2011, S.267ff.
2 s. ebenda
3 Vgl. Nils Melzer: Der Fall Julien Assange, München 2021, S.129
4 Ebenda Klappentext
5 https://protestnoten.de/solidaritaet-mit-assange/
Fotos: ©scottiberlin